► Sprache mit dem Gedächtnis lernen
Nur mit Interesse am zu Erlernenden ist es möglich, Gedächtnisinhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis zu bringen. Sowohl ein aktives (produktives) als auch ein passives (rezeptives) Gedächtnis sind für den Sprachunterricht nötig. Von Bedeutung sind sowohl die Gedächtnisinhalte, die auf Abruf bereitstehen und sofort produktiv gebraucht werden können als auch die Inhalte, die zwar nicht auf Abruf zur Verfügung stehen, "dennoch aber im passiven Gedächtnis vorhanden sind, so dass sie beim Wiedererkennen von Sprachzeichen behilflich sind. In einer Informationsgesellschaft, in der wir gegenwärtig leben, wird das passive oder rezeptive Gedächtnis sogar zunehmend wichtiger, da doch in einer großen Kultursprache wie Deutsch, Englisch oder Französisch der jährliche Zuwachs an Wörtern bei 3000 bis 4000 Einheiten liegt. So viele neue Wörter können gar nicht alle in das aktive Langzeitgedächtnis überführt werden, aber passiv werden dennoch sehr viele dieser Wörter beherrscht, das heißt, bei der nächsten Begegnung wieder erkannt." (Weinrich 2001: 120).
Weinreich weißt darauf hin, dass Minimalwortschätze (etwa 2.000 bis 4.000 Wörter, die am häufigsten in einer Sprache vorkommen, werden dem Fremdsprachenunterricht zu Grunde gelegt) aus den häufigsten und somit meist trivialsten Wörtern einer Sprache bestehen. Unser Gedächtnis speichere aber gerade das Triviale nicht besonders gut, weil es gleichzeitig das Langweilige sei. "Interessante Wörter hingegen, und das sind ärgerlicherweise zugleich die seltenen Wörter, werden vom Gedächtnis viel besser gespeichert. [Das Gedächtnis gewährt] den unnützen, aber interessanten Wörter viel bessere Konditionen [...] als den nützlichen, aber langweiligen Wörtern" (126 f.).
"Echte Texte, und das gilt insbesondere für literarische Texte, sind nun glücklicherweise so beschaffen, dass sie Wörter jeder Sorte in unvorhersehbarer Weise mischen, so dass man in ihnen neben den alltäglichen Wörtern auch interessante und die Aufmerksamkeit und Gedächtniskraft auf sich ziehende Wörter in der richtigen Mischung nebeneinander findet. [...] Wenn wir [...] wollen, dass Wörter, die uns in Texten begegnen, sich in unserem Gedächtnis festhaken und sich dort einnisten, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass unsere Texte interessante Wörter enthalten" (127).
Weinrich schlägt vor, Wörtern "kleine Geschichten zu geben", um Wörter interessant zu machen und etwa durch etymologische Deutung (woher kommt das Wort?) ihnen "einen mnemophilen Sinn" zu geben (128). "Es geht [...] darum, im Sprachunterricht ein Klima zu erzeugen, in dem es möglich ist, über Wörter zu reden und von Wörtern zu erzählen. Nur in einem solchen Klima kann ein Wörtergedächtnis gedeihen" (129).
Andere Arten, über Wörter zu sprechen: Wörter von einander unterscheiden, sie steigern, Synonyme und Antonyme suchen, Definitionen bilden u. v. m. Auch die Einordnung eines Begriffs zwischen die Enden einer Skala biete sich an (129).
Weinrich meint weiter, "dass zwar durch keinen noch so gute Methode das konkrete Lernen an Beispieltexten abgeschafft und keinesfalls durch eine Zauberformel ersetzt werden kann, dass es aber in vielen Sprachlernsituationen nützlich und vorteilhaft ist, die nach den verschiedenen Kontexten und Situationen divergierenden Bedeutungsnuancen an ein Anschauungszentrum anzubinden. [...] Wir machen mit unseren Form- und Bedeutungserklärungen nur dann ein vernünftiges Angebot an die Gedächtnisleistungen der Schüler, wenn wir ihnen Anschauungszentren mitliefern, auf die sie diffuses Wissen beziehen können, so dass sich das immer höchst nuancenreiche Sprachmaterial mit seinen Kernbedeutungen "prototypisch" im Gedächtnis festsetzen kann" (131 f.).
Weinrich spricht sich auch für das Auswendiglernen von Gedichten (132) bzw. den Textvortrag aus, den er funktional eingebunden in eine natürliche Gesprächssituation wissen will wie etwa beim Theaterspielen (133). "Die Kunst [...], über einen Gegenstand frei vorzutragen, [...] sollte eine wichtige Übungstechnik im Sprachunterricht sein" (133). Auf Merkzettel soll dabei verzichtet werden, denn:
"Ein schlechtes Gedächtnis hat nur derjenige, der sein Gedächtnis nicht trainiert hat. Mit ein bisschen Mnemotechnik braucht kein Mensch ein schlechtes Gedächtnis zu haben" (134).
Notwendig sei daher auch, "Probleme des Gedächtnisses mitsamt seinen Leistungen und (angeblichen) Fehlleistungen" (134) im Sprachunterricht zu thematisieren. Lehrer sollten etwa Anregungen zur Entwicklung der Gedächtniskunst geben und es sollte im Unterricht einen "Gedächtnis-Erfahrungsaustausch" (134) geben: "Jeder soll sagen und den anderen mitteilen, welche guten oder weniger guten Erfahrungen er mit bestimmten Mnemotechniken gemacht hat. Allein die Tatsache, dass über das Gedächtnis gesprochen wird, verstärkt die guten Gedächtnisleistungen" (134).
Literatur:
Weinrich, Harald (2001): "Sprache und Gedächtnis", in: Weinrich, Harald (2001): Sprache, das heißt Sprachen, Tübingen: Narr, 120-135.