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Babel und Sprache in der biblischen Urgeschichte
Was Pieter Bruegel der Ältere in die Niederlande des 16. Jahrhunderts verlegt, wird in der Bibel im Buch Genesis (II, 1-9) erzählt: Aus Angst vor einer erneuten Sintflut und - vor allem - um sich "einen Namen zu machen", wollen die Menschen eine große Stadt und den bis in den Himmel reichenden Turm von Babel (Babel bedeutet etwa 'Tor Gottes') errichten. Als Strafe (?) Gottes folgt die babylonische Sprachverwirrung:
"Lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! [...] Daher heißt [die Stadt] Babel, da der Herr daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache, und sie zerstreut dort in alle Länder."
Niemand versteht mehr den anderen; der Bau bleibt unvollendet. Das Resultat sind die zweiundsiebzig Sprachen.*
Der Turm als Symbol für irdischen Größenwahn, für die Anmaßung des Menschen gegenüber Gott? Nur Gott macht sich einen Namen, nur ihm ist alles möglich. Sprachverwirrung (= Sprachmischung) - und Zerstreuung der Menschen über die Erde - als Strafe für Hybris? Das ist nur eine Deutung der Babel-Geschichte.
Man darf in die Geschichte aber nicht hineinlesen, dass eine einzige Sprache das Ideal und Sprachenvielfalt negativ wäre. Die Geschichte versucht wohl nur zu erklären, wie es zu der Vielfalt an Sprachen kam. Die Sprachenvielfalt "ist also etwas dem Menschen Zuträgliches und Gutes. Sie lässt ihn in seinen angestammten Grenzen bleiben und verhindert die selbst zerstörerische Hybris. Die Sprachenvielfalt ist eine göttliche Schutz- und Präventivmaßnahme gegen die Hybris des Menschen, aber auch eine Schutzmaßnahme gegen eine dem Menschen ebenso abträgliche, sogar schädliche Uniformierung des Lebens" (Seidl 2000: 271f.).
Die Herkunft der Sprache wird in der Bibel aber nicht erklärt. Sprache wird in der Schöpfungsgeschichte bereits vorausgesetzt. "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" (Joh 1,1). "Das Wort ist Fleisch geworden" (Joh 1,14): die göttliche Wahrheit "hat in der Form von menschlicher Sprache und Schrift menschliche Gestalt angenommen. [...] Wort, Sprache und alles, was Sprache zu Sprache macht, [wird] im Reden von Gott innerhalb der Theologie zu einer Vorstellungsweise und zu einer Chiffre von Gott selber [...] 'Wort' [...] ist einer der vielen menschlichen Namen und eine der vielen menschlichen Umschreibungen für Gott" (Seidl 2000: 261f.).
"Die Sprache [...] als Urvermögen des homo
sapiens, als fundamentale Potenz menschlicher Kommunikation, spielt [...] in
der Urgeschichte eine besondere, eine dreifache Rolle.
Das menschliche Sprachvermögen mit seiner verwandelnden, Wirklichkeit
schaffenden Kraft und seinen generierenden Effekten wird
1.) zum Analogon für die menschliche Vorstellung göttlichen Schöpfungshandelns,
wird zur Grundkraft und Ursache der Schöpfung überhaupt.
Sprache wird in der Urgeschichte
2.) zum Faktor und zum Vermögen menschlichen Ordnens, Zuordnens,
Kategorisierens.
3.) wird die menschliche Sprache in ihrer Vielgestaltigkeit am Ende der
Urgeschichte in Genesis 11 zum Gegenstand der Reflexion über die Gebrochenheit
und Bedingtheit der menschlichen Gemeinschaft und über die zentrale Frage nach
einem dem Menschen füglichen und zuträglichen Sinnbezirk seines Lebens jenseits
und in Abkehr von sinnwidrigen Grenzüberschreitungen" (Seidl 2000: 264).
Literatur:
Borst, Arno (1957): Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, (6 Bde., bis 1963), Stuttgart: Hiersemann.
Die Bibel (1985), Deutsche Bibelgesellschaft.
Gauger, Hans-Martin (2004): "Babel", in: Was wir sagen, wenn wir reden, München/Wien: Carl Hanser, 51-56.
Hartmann, Fred (1999): Der Turmbau zu Babel: Mythos oder Wirklichkeit? Turmbausagen im Vergleich mit der Bibel, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler.
Seidl, Theodor (2000): "Schöpferwort, Menschenwort, Sprachenverwirrung. Sicht und Bewertung der Sprache in der biblischen Urgeschichte (Gen I-II)", in: Berchem, Theoder/Böhm, Winfried/Lindauer, Martin (Hrsg.): Weltwunder Sprache, Stuttgart u.a.: Klett.
Seipel, Wilfried (2003): Der Turmbau zu Babel - Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift, Wien: Kunsthistorisches Museum.
Wadler Arnold (1997): Der Turm von Babel: Urgemeinschaft der Sprachen, Wiesbaden: Fourier.
Woschitz, Karl M. (2003): "Der Mensch in der Revolte und unter dem Gottesgeist - Der Turmbau von Babel und das Pfingstwunder", in: Seipel, Wilfried: Der Turmbau zu Babel - Ursprung und Vielfalt von Sprache und Schrift, 1. von 4 Bänden, Wien: Kunsthistorisches Museum.
Links:
*Zweiundsiebzig Sprachen:
"Die Zahl 72 (in der jüd. Tradition nur 70) ergibt sich aus der Völkertafel in Gen. 10, die die Nachkommenschaft der Söhne Noahs, Sem (šem 'Name, Ruhm'), Ham (xam 'Sonnenbrand') und Japhet ('Ausbreitung') aufführt und geograph. lokalisiert. Die semit. Völker und Spr. wurden in Vorderasien, die hamit. im Süden, die japhetit. im Osten, Norden und Westen der bekannten Welt angesiedelt. Im Laufe des MA [Mittelalters] und der frühen Neuzeit erfuhr diese Völkertafel viele Um- und Neuinterpretationen, weil jede christl. Nation von Armenien bis Portugal und Island sich darin wiederfinden wollte. Dabei ist eine deutl. Vorliebe für den japhetit. Zweig feststellbar. Nach der christl. Lehre wird diese Sprachverwirrung im Pfingstwunder überwunden."
Glück, Helmut (22000): "Zweiundsiebzig Sprachen", in: ders. (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart/Weimar: Metzler, 814. [Cf. auch Borst 1957]